Sarah Kirsch leiht mir ihren Garten
Im Vorgarten
Alles begann an dem Tag, als ich mir Sarah Kirschs Sommerhütchen aufsetzte. Es erschien so pünktlich wie die Schwalben, deren Ankunft Sarah Kirsch in ihrem Tagebuch genau festhält. Im Sommer. Gelbes Leinen mit einem Frühlingsstreifen Grün eingefasst. Mit diesem Buch, unter diesem Hütchen also konnte man sehen!
Vielleicht so: Bei meinem Spaziergang zu Brot und Käse und Seife, habe ich bloss auf die blütenlosen Bäume geschaut, die sich brav aneinanderreihen. Schliesslich nennen sie es Allee. Da gucke ich auf die Bäume und stelle mir vor, es wäre die Allee in Paris, Orangerie. Das hätte ich besser nicht gemacht, denn jetzt überfällt mich eine Langeweile, die von den Zugbarrieren, die hoch in den Himmel ragen, noch verstärkt wird. Nicht einmal Züge, vom Hausberg in die Stadt, von der Stadt auf den Hausberg.
Auf dem Nachhauseweg ist das Fernweh stärker geworden. Wohin? Zu Sarahs Haus. Eines Tages, zu Sarahs Haus, nach Thielenhemme. Vielleicht stehen da noch die Schafe, die Aquarelle, und der Wind muss mir die Füsse wegschlagen.
Aber mit Brot, Käse und Seife biege ich den Weg in unser Quartier ein, wo ich jeden Tag auf die Schwalben warte, mich sorge. Waren sie im letzten Jahr nicht früher gekommen? Können Schwalben beschliessen, einen Ort in einem Frühling zu meiden?
Mit meiner Nachbarin Rosina würde ich jetzt gerne sprechen. Ob ein Mädchen in ihrem Bauch wächst? Rosina verlässt das Haus, eilt davon. Ich rufe nicht. Davoneilenden Personen zu rufen, gehört sich nur, wenn sie etwas vergessen haben. Rosina! Wir haben zu wenig Zweisamkeit, dabei würdest du unter dem Sommerhütchen viel sehen.
Der Gärtnermeister des Quartiers sitzt wieder auf seiner Maschine. Lässt sie Gras fressen. Wusste ich doch, dass es heute durch unsere Wiesen brummt, das Insekt in tolkienscher Grösse. Bloss, dass niemand sein Schwert zückt. Keine Elfen und Zwerge hier, aber jede Menge Kinder, die ihre Süsse streuen und die Mächte durcheinanderwirbeln.
Das Insekt frisst die grosse Wiese englisch. Später spiele ich Pianoforte, gegen den anspruchsvollen Ton.
Dass mir heute die Welt so klein ist. Wie fahren Züge nach Thielenhemme? Wenn es da einen gläsernen Garten geben sollte, bin ich verloren, an diesen Ort. Noch fahre ich nicht. Wenn meine Haare weiss werden sollten, fahre ich. Kann mir diesen gläsernen Garten auch bauen. Aber muss es einem nicht gegeben sein, Tage mit Glück zu füllen? Sarah Kirsch vermochte das. Und dass sie dieses Glück festgehalten hat für uns, ist eine weithohe Möglichkeit. Es zu versuchen. Die Münzenschwere loszuwerden. Die Schwalbenleichte zu erhalten.
Jedes Wort von Sarah Kirsch unter unseren Dächern. Damit wir in alle acht Himmelsrichtungen gucken können.
am weiher
mit schwerem schmuck schlug ich mich zum weiher
den fröschen die goldene kugel zu schenken
als ich des fischreihers stille störte
stieb er silbernen wind mir zu
eine kleine manege liess mir die sonne erhellt
mein päckchen zeit entwickelte sich schafsstill
als ich ging vom weiher, vom baumrondell
haftete silber mir an, bis tief in die nacht
im wintergarten sommer denken
heute morgen bimmelten die glocken viel schriller
jemand schlug eisenstange auf eisenstange
das weckte die ganze stadt aufs fahrrad
da ass ich brot mit vanillecreme und trank
kaffee auf der piazza motorini und handküsse
mittags kaufte ich mit silbernen talern
ein quadratisches mondloses meer
ein predigtloser gottesdienst schwamm umher
betete hinter gepressten lippen
alte männer, junge frauen, enten flogen vorbei
abends buk ich mich in teig
und schlug mit den zähnen ein mondgrosses loch
im sommer möchte ich kutsche fahren
entschloss ich und rief es dem wald in den bergen
er zäume die pferde! ich bringe die kutscher!
den garten verlassen
lindengrüne knospen trägt der kirschbaum
vor unserem küchenfenster
noch verbündet er sich mit dem spanischen grün des kirchturms
nächstens denke ich japan
hügel sind himmelnah und in schrittnähe
wenn es lautwirr wird
mit jeder steigung ein wort schleudern
lass sie unten die menschen
keine peitsche für meinen herzschlag
da unten tanzt ein fluss
sonne tritt auf, streut
mein schatten verlöre sich nahe am ufer
jetzt zieht dämmerung durch mich
immer hat sie es eilig, ein mondgebot
und die schlüssel passen noch
aber die sessel sind mir so fremd
© Lea Gottheil 2014
Der Text ist erschienen in:
Quelle lebender Bücher: 75 Jahre Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich / Hrsg. im Auftr. der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich von Yvonne Domhardt u. Kerstin A. Paul. Biel/Bienne : Edition Clandestin, 2014.
S. 97-99